Zinsen: Hoffen auf eine weiche Landung

Das Marktgeschehen wird derzeit von vielen Spekulationen hinsichtlich der künftigen Zinspolitik begleitet. Ende Juli erhöhten sowohl die Europäische Zentralbank (EZB) als auch die Federal Reserve (Fed) die Leitzinsen ein weiteres Mal um 25 Basispunkte. Für beide Zentralbanken könnte dies die letzte Zinserhöhung in einem beispiellosen Anhebungszyklus gewesen sein. Die verbliebene implizite Restwahrscheinlichkeit für einen weiteren Zinsschritt, basierend auf Finanzmarktdaten, liegt für die EZB etwas höher als für die Fed. Ob ein solcher letzter Zinsschritt kommt, ist allerdings auch nicht mehr von zentraler Bedeutung für die Finanzmärkte, denn die Marktteilnehmer fokussieren sich jetzt schon auf die erste Zinssenkung. Eine solche könnte in den USA bereits im ersten Quartal 2024 anstehen, soweit man den Zinskurven Glauben schenken mag. Allerdings ist der erwartete Zeitpunkt dieser ersten Zinssenkung in den vergangenen Monaten immer wieder nach hinten verschoben worden. Laut Markterwartungen dürfte die EZB mit einigen Monaten Verzögerung folgen, vermutlich zur Jahresmitte 2024. Bemerkenswert ist aber nicht nur die Erwartung eines relativ raschen Beginns des Zinssenkungszyklus, sondern auch der eingepreiste Umfang. Bis Anfang 2025, so wird erwartet, könnte der Zentralbanksatz in den USA von derzeit zwischen 5,25 und 5,50 Prozent wieder auf unter 4 Prozent sinken. Wann sinken die Zinsen wieder? Tatsächlich ungewöhnlich im historischen Kontext ist, dass der baldige Beginn und der deutliche Umfang des eingepreisten Zinssenkungszyklus einhergehen mit der Erwartung, dass die US-Wirtschaft sich zwar weiter abkühlen, von einer spürbaren Rezession aber verschont bleiben könnte. Laut Konsensschätzungen dürfte die US-Wirtschaft in diesem Jahr inflationsbereinigt um 1,6 Prozent und im kommenden Jahr um immerhin 0,6 Prozent wachsen. Für 2025 erwarten Beobachter sogar wieder ein Wachstum von 1,9 Prozent. Auch die Aktienmärkte reflektieren diese Haltung: Das erwartete Gewinnwachstum für 2024 und 2025 für den US-Markt liegt bei über 10 Prozent. Der Kapitalmarkt rechnet mit einer „weichen Landung“ („Soft Landing“) der US-Wirtschaft. Das würde einen Prozess im Konjunkturzyklus bedeuten, bei dem die Wirtschaft von einer Phase des soliden Wachstums über langsames Wachstum in einen möglichen Stillstand übergeht. Sie nähert sich zwar einer Rezession, vermeidet diese aber letztlich. Dies kann auch vereinzelte Quartale mit negativem Wachstum beinhalten, bis hin zu einer milden technischen Rezession. Das wären zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativem Wachstum. „Die US-Konjunktur bleibt der Taktgeber der globalen Kapitalmärkte.“ Philip Gisdakis, Hypovereinsbank Bemerkenswert ist, dass die üblichen empirischen Modelle eine spürbare Rezession in den USA vorausgesagt haben. Das gilt insbesondere für jene, die mehrheitlich auf einer Inversion der Zinsstrukturkurve beruhen: Nur ein einziges Mal invertierte diese Zinskurve (in geringfügigem Umfang im Jahr 1998), ohne dass eine Rezession folgte. Zum ersten Mal in etwa 50 Jahren könnte es nun aber sein, dass dieses statistisch ziemlich präzise Modell eindeutig eine Rezession vorhersagt, die vermutlich so nicht eintreten wird. Bei Lichte betrachtet ist der Ausblick für solch eine Entwicklung aber gar nicht so besonders, denn eine invertierte Zinskurve sagt zunächst einmal nur, dass der Markt mit sinkenden Zinsen rechnet. In den vergangenen Jahrzehnten waren solche Zinssenkungen nötig, weil die Wirtschaft in eine Rezession rutschte. Nun scheint es, dass Zinssenkungen möglich werden könnten, sobald sich die Inflationsdynamik hinreichend abgekühlt hat und den Zentralbanken Spielraum für Zinssenkungen ermöglicht. Zwei Risikoszenarien Das „Soft Landing“-Basisszenario lässt Raum für zwei Risikoszenarien: Eines davon könnte man als „Melt-down“ bezeichnen, da es in diesem Szenario eben doch zu einer spürbaren Rezession kommt. In der Folge dürfte sich die Stimmung an den Aktienmärkten deutlich abkühlen, die Anleihemärkte dürften hingegen profitieren, da die Fed entschiedener die Zinsen senken könnte als im eingepreisten Basisszenario. Der Autor: Dr. Philip Gisdakis ist Chefanlagestratege im Wealth Management & Private Banking der Hypovereinsbank.Foto: Hypovereinsbank Das andere Risikoszenario könnte man als „Melt-up“ bezeichnen. In diesem Szenario würde sich die Inflation nicht wie erwartet sukzessive in Richtung Zielkorridor bewegen, sondern hartnäckiger halten als erhofft. Da diese mit einer robusten Wirtschaftsentwicklung in den USA einhergehen dürfte, würde dies die US-Aktienmärkte vermutlich eher beflügeln. Sollten sich die erwarteten Zinssenkungen aber deutlich verzögern (beispielsweise bis in das Jahr 2025), dürften die Anleihemärkte verschnupft reagieren. Infolge anhaltend hoher Finanzierungskosten würde dann auch das Rezessionsrisiko in den USA wieder steigen. Dem Melt-up könnte dann letztlich ein Melt-down folgen. Europa als Beobachter? Europa dürfte bei dieser Entwicklung eher eine Beobachterrolle zukommen. Die europäische Wirtschaft – derzeit unter anderem ohne wesentliche Wachstumsimpulse aufgrund einer unerwartet schwachen Erholung der chinesischen Konjunktur – wird nach wie vor gestützt durch die Nachfrage aus den USA. Die in globale Lieferketten integrierten europäischen Unternehmen spüren auch die Folgen potentiell (temporär) divergierender Zinspfade auf den Währungsmärkten. Senkt die Fed die Zinsen früher und schneller als die EZB, dürfte sich der Wechselkurs des Euro zum US-Dollar verfestigen – was einerseits die importierte Inflation dämpfen würde (insbesondere bezüglich der Energie- und Rohstoffkosten), andererseits aber die globale Nachfrage nach europäischen Gütern belasten dürfte. Wirklich billig ist der Euro gegenüber den meisten seiner Haupthandelswährungen (mit Ausnahme des US-Dollar) im Übrigen derzeit nicht. Die US-Konjunktur und die Geldpolitik der US-Zentralbank bleiben in den kommenden Quartalen der Taktgeber der globalen Kapitalmärkte. Auch wenn es Risiken in beide Richtungen geben mag, lässt uns das Basisszenario einer „weichen Landung“ in den USA durchaus zuversichtlich auf die kommenden Monate blicken. Info Die Kolumne „Das Große Ganze“ ist die Makro-Kolumne von FINANCE. In jeder zweiten Ausgabe nimmt einer unserer vier festen Kolumnisten ein aktuelles Makro-Thema in den Blick und bricht es auf die Perspektive des Finanzchefs herunter.

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