Eineinhalb Jahre nach der spektakulären Pleite von Wirecard ist die Geschichte um den Bilanzskandal des Zahlungsdienstleisters immer noch nicht auserzählt – im Gegenteil. Nach wie vor kommen immer noch neue Erkenntnisse ans Licht. Ein Grund, die neuesten Entwicklungen und ihre Folgen für die Corporate-Finance-Welt auch auf der Kongressmesse Structured FINANCE unter die Lupe zu nehmen. Über den Fall diskutierten die Wirecard-Experten Fabio de Masi, ehemaliger Obmann im Wirecard-Untersuchungsausschuss im Bundestag, die Bilanzierungsexpertin Carola Rinker und der Rechtsanwalt Marc Liebscher.
Für viel Diskussionsstoff sorgte dabei der kürzlich vom „Handelsblatt“ veröffentlichte „Wambach-Bericht“ des Sonderprüfers Martin Wambach, der die Arbeit von Wirecards jahrelangem Abschlussprüfer EY untersucht hatte. „Der Bericht hat gezeigt, was über Jahre schiefgelaufen ist“, meint Carola Rinker.
Marc Liebscher kritisiert EYs Arbeit bei Wirecard
Für Rechtsanwalt Marc Liebscher, der mehrere Anlegerklagen in dem Fall betreut, ist der Bericht sogar ein „Game Changer“. Eine Erkenntnis stellt er dabei besonders heraus: „EY hat bereits im März 2017 gemerkt, dass vieles nicht passt, und hat Wirecard daher Voraussetzungen genannt, die erst erfüllt werden müssten, damit die Prüfer testieren können“, berichtet der Jurist. „Doch obwohl Wirecard die Forderungen letztlich nie erfüllte, hat EY den Abschluss für 2017 testiert.“
Fabio de Masi sieht die Arbeit des Abschlussprüfers noch aus einer anderen Perspektive kritisch: „Es gab Dokumente, die nahegelegt haben, dass EY in die Beratung zum Drittpartnergeschäft einbezogen war. EY hat also im Prinzip empfohlen, diese komplexe Struktur, die dann auch für den Betrug genutzt wurde, mitaufzusetzen.“
Carola Rinker sieht verschärfte Haftung für Prüfer kritisch
Um Bilanzskandale wie Wirecard möglichst zu verhindern, hat der Gesetzgeber vor Kurzem das Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz (FISG) verabschiedet. So mancher empfindet das als Überregulierung – Rechtsanwalt Marc Liebscher nicht: „EY behauptet, sie hätten keinerlei Fehler gemacht, im Gegenteil. Nur wegen der vermeintlich ‚hervorragenden‘ prüferischen Arbeit von EY sei der Bilanzskandal überhaupt ans Licht gekommen“, sagt er ironisch. Er vermisst bei dem Wirtschaftsprüfer das Eingeständnis, dass die Prüfer etwas falsch gemacht hätten. Dies habe bislang nicht stattgefunden. „Deswegen ist die gesetzgeberische Reaktion durchaus angemessen und berechtigt.“
Auch Bilanzexpertin Carola Rinker hält die Maßnahmen aus dem FISG grundsätzlich für sinnvoll, aber sie seien noch nicht zu Ende gedacht, moniert sie. Dies gelte vor allem in Bezug auf die deutlich verschärfte Haftung der Abschlussprüfer bei Bilanzierungsfehlern: „Allein die Haftung auszuweiten, damit ist es nicht getan.“ Das Vorgehen könne sogar dazu führen, dass sich die Konzentration im Prüfermarkt noch weiter verschärft. „Vielmehr muss man die Honorierung der Abschlussprüfung nochmal auf die Agenda setzen“, fordert Rinker.
Werden Wirecard-Mitarbeiter rechtlich belangt?
Nach der Insolvenz sind einige ehemalige Wirecard-Führungskräfte ins Visier der Ermittler gerückt. Die Teilnehmer der digitalen Veranstaltung im Rahmen der Structured FINANCE interessierten sich darüber hinaus auch für die Frage, welche Verantwortung die Mitarbeiter außerhalb des Wirecard-Vorstands tragen könnten. „Es gab Personen unterhalb des Vorstands, die gemerkt haben: ‚Hier läuft etwas nicht richtig‘ – und die trotzdem weitergearbeitet haben“, behauptet Marc Liebscher. Er meint: „Die Geschichte ist nicht auserzählt, auch nicht in der zweiten und dritten Reihe bei Wirecard.“ Grundsätzlich könnten Mitarbeiter auch unterhalb der Vorstandsebene belangt werden, sofern man ihnen Vorsatz oder Beteiligung nachweisen könne, konkretisierte er.
Auch die Rolle anderer Aufsichtsorgane wie Bafin, Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung oder Prüferaufsicht Apas diskutierten die Teilnehmer kontrovers. „Ich sehe ein krasses Versagen auf Ebene der Staatsanwaltschaft, der Finanzaufsicht und auch der Bilanzkontrolle“, meint Fabio de Masi, der vor allem das Leerverkaufsverbot durch die Bafin als großes Problem ansieht. Seiner Meinung nach müsse bei der Bafin ein Kulturwandel vollzogen werden. „Man muss zum Beispiel Hinweise von Leerverkäufern, die natürlich auch eigene Interessen haben, trotzdem ernst nehmen und prüfen.“
Warum Fabio de Masi glaubt, dass Haftungsansprüche gegen EY gut zu begründen seien, wie Carola Rinker die Rolle der Wirecard-Aufsichtsräte sieht und warum Wirtschaftsprüfer laut Marc Liebscher keine „besonders schützenswerte Spezies“ sind, erfahren Sie hier im Videomitschnitt zur Veranstaltung.
julia.schmitt[at]finance-magazin.de
Julia Schmitt ist Redaktionsleiterin von FINANCE-Online und Moderatorin bei FINANCE-TV. Nach ihrem Studium der Volkswirtschaftslehre und Publizistik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz stieg sie 2014 bei F.A.Z. BUSINESS MEDIA ein. Sie betreut die Themenschwerpunkte Wirtschaftsprüfung und Bilanzierung und ist Trägerin des Karl Theodor Vogel Preises der Deutschen Fachpresse.