Ottobock will an die Börse

Duderstadt ist ein typischer Ort für Hidden Champions: 20.000 Einwohner, mitten in der niedersächsischen Provinz gelegen. Aus der nächstgrößeren Stadt Göttingen dauert die Fahrt mit einem Überlandbus fast eine Stunde. Auf dem Weg ziehen Felder, Wälder und verschlafene Dörfer vorbei. Fast aus dem Nichts taucht rechts nach der Ortseinfahrt von Duderstadt ein Gebäude mit grauer Betonfassade auf: der Konzernsitz des Medizintechnikherstellers Ottobock, über dem an jenem Dezembermorgen dunkle Wolken hängen. Das Familienunternehmen, das 2019 seinen 100. Geburtstag feierte, flog in der öffentlichen Wahrnehmung lange ebenso unter dem Radar wie Duderstadt. Der Gründer und Namensgeber Otto Bock wollte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Kriegsversehrten mit Hilfe von Prothesen das Leben erleichtern. Heute ist sein Enkel, Hans Georg Näder, Geschäftsführer des Unternehmens, das mit der Herstellung von künstlichen Gliedmaßen, Orthesen und Rollstühlen fast 1 Milliarde Euro Umsatz erwirtschaftet und 8.000 Mitarbeiter beschäftigt. Ottobock plant IPO Ottobock hat große Pläne: Mittelfristig will der Prothesenhersteller an die Börse. Dafür haben die Duderstädter zuletzt auch das Management neu formiert. Den Chefposten übernahm im August 2018 Philipp Schulte-Noelle, der zuvor die Finanzen leitete. Er ist früherer Private-Equity-Manager und Sohn des langjährigen Allianz-Vorsitzenden und -Aufsichtsratschefs Henning Schulte-Noelle. Im August 2019 holte der Prothesenhersteller zudem den erfahrenen Finanzer Jörg Wahlers als CFO an Bord, der zuvor unter anderem für Jack Wolfskin und Escada tätig war. Gemeinsam sollen beide das Familienunternehmen jetzt fit für den Kapitalmarkt machen. Die Finanzabteilung muss für den IPO professionalisiert, eine neue Wachstumsstrategie definiert werden. Diese neue Aufgabe habe ihn sofort gereizt, berichtet Wahlers, als er den Besuch in einem Konferenzraum mit Blick auf den Showroom des Prothesenherstellers empfängt: „IPO-Erfahrung habe ich zwar bisher keine“, räumt der CFO ein, der zum Zeitpunkt des Interviews gerade vier Monate im Amt ist. „Mit Unternehmen im Wandel und den Bedingungen des Kapitalmarkts kenne ich mich aber bestens aus.“ „IPO-Erfahrung habe ich zwar bisher keine. Mit Unternehmen im Wandel und den Bedingungen des Kapitalmarkts kenne ich mich aber bestens aus.“ Jörg Wahlers, CFO, Ottobock CFO Jörg Wahlers kommt von Jack Wolfskin „Bei Ottobock geht es vor allem darum, das Wachstum zu managen.“ Jörg Wahlers Bei seinen letzten zwei Stationen – der Luxusmodemarke Escada und dem Outdoor-Ausrüster Jack Wolfskin – war Wahlers vor allem als Restrukturierer gefordert. Kosten senken und Schulden abbauen lautete die primäre Aufgabe. Der 55-Jährige war als Interim-CEO bei Escada sowie als COO bei Jack Wolfskin für die strategische Entwicklung zuständig. „Bei Ottobock geht es vor allem darum, das Wachstum zu managen“, so Wahlers. Die Herausforderung bei Ottobock anzunehmen ist dem Finanzprofi nach eigener Aussage leicht gefallen. „Den Eigentümer Hans Georg Näder schätze ich als mutigen Visionär und erfolgreichen Unternehmer“, sagt der CFO. „Seit März 2019 befand ich mich konkret im Austausch mit CEO Philipp Schulte-Noelle“, erinnert sich Wahlers. „Gleich beim ersten Treffen hat er mich begeistert: Wir trafen uns in einer Hotellobby im hessischen Bad Homburg, er kam gerade aus Argentinien zurück und hatte mit einem Jetlag zu kämpfen.“ Dennoch habe man sich auf Anhieb gut verstanden. „Wir sprechen die gleiche Sprache“, erzählt der Finanzchef, dessen norddeutsche Herkunft ab und an in der Aussprache durchblitzt. Wahlers ist im niedersächsischen Rotenburg an der Wümme geboren. Für Ottobock dürfte unter anderem Wahlers‘ Erfahrung mit Finanzinvestoren entscheidend gewesen sein: Bei Jack Wolfskin war der CFO beispielsweise für die Kommunikation mit den Hedgefonds zuständig, die zwischenzeitlich die Kontrolle über das Unternehmen übernommen hatten. FINANCE-Köpfe Jörg Wahlers, Ottobock SE & CO. KGaA Jörg Wahlers beginnt seine Karriere nach dem Studium im Jahr 1990 als Amtsprüfer. Ein Jahr später wechselt er als Steuerprüfer zum US-Lebensmittelkonzern Kraft Jacobs Suchard (heute Mondelez), wo er vier Jahre lang tätig ist. Im Jahr 1995 steigt Wahlers als Financial Services Manager bei Effem ein, der Tiernahrungssparte von Mars. Zwischen 1999 und 2005 ist Jörg Wahlers Finanzdirektor von Campbell Soup und trägt in dieser Funktion die Verantwortung für Deutschland. Dann folgt der Wechsel zu Reckitt Benckiser, wo Wahlers bis 2009 als Regional Finance Director Central Europe arbeitet. Im Anschluss daran steigt Wahlers zum Regional Director Finance für die Region Südeuropa auf. 2011 tritt Wahlers seine erste CFO-Position an, und zwar beim Keramikhersteller Villeroy & Boch. Nach drei Jahren wechselt Wahlers in die Modebranche und wird CFO und COO der Luxusmodemarke Escada. Für ein Jahr, von 2015 bis 2016, nimmt Wahlers zudem interimistisch die Position des CEOs ein. Im Jahr 2017 zieht es Jörg Wahlers zum Outdoorausrüster Jack Wolfskin, wo er als CFO und COO agiert. Seit August 2019 ist Jörg Wahlers CFO des Medizintechnikproduzenten Ottobock, an dem zum damaligen Zeitpunkt der Private-Equity-Investor EQT minderheitlich beteiligt ist. zum Profil Wahlers zwischen PE und Familienunternehmen Bei Ottobock muss Wahlers im Sinne des Familienunternehmers Näder und des schwedischen Finanzinvestors EQT agieren. „Beide Gesellschafter wollen, dass das Unternehmen profitabel wächst, insofern sind die Interessen gleichgerichtet“, betont Wahlers. Dennoch prallen zwei unterschiedliche Kulturen aufeinander. EQT hatte sich im Juni 2017 für einen Unternehmenswert von 3,15 Milliarden Euro bei Ottobock eingekauft und hält seitdem 20 Prozent der Anteile. Ursprünglich wollte Familienunternehmer Näder den Konzern schon damals an die Börse bringen. In Sachen Profitabilität und Digitalisierung kann der Orthopädiespezialist noch Hilfestellung gebrauchen. Er blies das Vorhaben jedoch vorübergehend ab, um mit den Schweden „versteckte Performance- und Ertragspotenziale zu heben“ und die „digitale Transformation weiter auszubauen“, wie es damals in einer Pressemitteilung hieß. Mit anderen Worten: In Sachen Profitabilität und Digitalisierung kann der Orthopädiespezialist noch Hilfestellung gebrauchen. Diese erhält Ottobock auch von den Schweden: „EQT steuert viele gute Ansätze bei, das wissen wir zu schätzen“, berichtet Wahlers. Ottobock muss Ebitda-Marge verbessern Dass es bei den Niedersachsen zuletzt nicht ganz rundlief, zeigt ein Blick in die Zahlen. Detaillierte Daten veröffentlicht Ottobock nicht, doch 2018 fuhr das Unternehmen unter dem Strich einen kleinen Verlust ein. Die Restrukturierung der lange defizitären Rollstuhlsparte sowie Abschreibungen auf eine geplatzte M&A-Transaktion vermiesten das Ergebnis. Von Problemen im operativen Geschäft könne überhaupt keine Rede sein, betont Finanzchef Wahlers im Interview mit FINANCE: „Wir liegen voll auf Kurs und wachsen. 2019 konnten wir den Umsatz wie geplant in Richtung 1 Milliarde Euro steigern und auch bei der Ebitda-Marge zulegen.“ Den genauen Wert konnte Wahlers beim Gespräch im vergangenen Jahr noch nicht nennen. 2018 lag die Ebitda-Marge bei 15,9 Prozent. Damit ist der Prothesenhersteller noch nicht so profitabel wie der größte Wettbewerber: der isländische Orthopädietechniker Össur, dessen Ebitda-Marge 2018 bei 18 Prozent lag. Bis 2022 will Ottobock diese Lücke schließen. Dann solle der Umsatz bei mehr als 1,3 Milliarden Euro liegen, die operative Marge bei gut 20 Prozent, erklärt Wahlers. „Wir liegen voll auf Kurs und wachsen. 2019 konnten wir den Umsatz wie geplant in Richtung 1 Milliarde Euro steigern und auch bei der Ebitda-Marge zulegen.“ Ottobock setzt auf Wachstum durch M&A Dieses Wachstum will Ottobock vor allem in Europa und in den USA erwirtschaften. Doch auch in Südostasien sowie in anderen Schwellenländern, in denen Ottobock bislang noch kaum präsent ist, will der Prothesenhersteller wachsen. Marco Moog Im Showroom in der Zentrale in Duderstadt präsentiert Ottobock seine neuen Innovationen. Das notwendige Versorgungsnetzwerk dafür wird Unternehmensangaben zufolge ausgebaut. Es umfasse derzeit mehr als 180 Patient-Care-Center weltweit sowie Auslandsgesellschaften in 59 Ländern. „In Afrika erhalten die Menschen nach einer Amputation noch immer Unterarmkrücken. Mit unserem versorgungsorientierten und patientenzentrierten Ansatz wollen wir Menschen überall auf der Welt den Zugang zu hochwertigen Prothesen verschaffen“, erklärt der Finanzchef. Neben der regionalen Expansion möchte der Konzern zudem sein Geschäft mit mechatronischen Orthesen und Exoskeletten stärken. Diese äußeren Stützstrukturen sollen Menschen etwa das Arbeiten über Kopf erleichtern, wie es in der Automobilproduktion notwendig ist. Um dieses Ziel zu erreichen, wollen die Niedersachsen unter anderem ihr Produktportfolio ergänzen. Dafür investiert das Unternehmen jährlich mehr als 6 Prozent des Umsatzes in Forschung und Entwicklung. CFO Wahlers: „Spielraum für M&A ist da“ Ottobock setzt aber auch auf Zukäufe, um das Wachstumsziel zu erreichen. So haben die Duderstädter Ende 2018 das belgische Patient-Care-Unternehmen Vigo übernommen. Das Familienunternehmen betreibt 29 Versorgungszentren in Belgien und Polen und erwirtschaftet einen Umsatz von 70 Millionen Euro. „Das Orthopädiegeschäft ist meist sehr regional und fragmentiert“, sagt Wahlers. Deshalb sei die Integration von Vigo wichtig, um die Präsenz des Konzerns in den beiden Ländern auszubauen. Vor der Übernahme hatte Ottobock bereits drei Versorgungszentren in Polen, aber keines in Belgien. „Wir stärken mit Vigo unser europäisches Versorgungsangebot zum Wohl der Anwender weiter“, erläutert der Finanzchef. Der Konzern würde gerne mehr in Übernahmen investieren, lässt Wahlers im Interview durchblicken. „Den finanziellen Spielraum dafür haben wir“, sagt der Finanzchef. Der Free Cashflow von Ottobock sei stark, und auch der Verschuldungsgrad lasse sich noch ausbauen. Finanzkreisen zufolge liegt der Leverage von Ottobock zwischen 2,5x und 3x Ebitda – mit Spielraum nach oben. Die Herausforderung sei allerdings, dass die potentiellen Targets eher klein sind, wie Wahlers betont – und größere Zukäufe für den Prothesenhersteller damit eher unwahrscheinlich sind. „Den finanziellen Spielraum für Zukäufe haben wir.“ Ottobocks M&A-Dilemma Eine Übernahme des US-Patientenversorgers Hanger, über die in der Vergangenheit bereits spekuliert wurde, sei „nicht geplant“, so der CFO. Hanger ist mit Umsätzen von knapp über 1 Milliarde Dollar der größte Kunde von Ottobock. Zudem gilt eine Übernahme kartellrechtlich als quasi unmöglich. CFO Wahlers möchte die Fehler der Vergangenheit unbedingt vermeiden, denn erst kürzlich verbrannte sich der Prothesenhersteller mit einem Deal die Finger. Im vergangenen Mai drängte die US-Kartellbehörde Ottobock dazu, die 2017 erfolgte Übernahme des Wettbewerbers Freedom Innovations rückabzuwickeln. Der Konzern werde sonst zu einem beherrschenden Anbieter für Mikroprozessor-gesteuerte Knieprothesen in den USA, so die Behörde. Den Kaufpreis von 78 Millionen Euro musste Ottobock abschreiben. Wann kommt der IPO von Ottobock? „Wir stehen nicht unter Zeitdruck. Wir werden aber alles tun, um kontinuierlich zu wachsen und uns in der Finanzabteilung professionell aufzustellen.“ CFO Wahlers über einen möglichen IPO Solche Schnitzer darf sich der Konzern nicht mehr leisten. Darauf dürfte nicht nur der Finanzinvestor EQT drängen, sondern mittelfristig auch der Kapitalmarkt. Anfang 2019 hatte CEO Schulte-Noelle angekündigt, ein Börsengang von Ottobock sei nach 2020 denkbar. Diese Aussage konkretisiert Wahlers im Gespräch mit FINANCE: „Wir stehen nicht unter Zeitdruck. Wir werden aber alles tun, um kontinuierlich zu wachsen und uns in der Finanzabteilung professionell aufzustellen.“ Sollte EQT in den nächsten Jahren an einen Exit denken und die Familie Näder sich für einen IPO entscheiden, müsse man „vorbereitet sein“. Eine Erklärung dafür, weshalb Wahlers im Gespräch eher defensiv auf den möglichen Börsengang reagiert, bleibt er schuldig. Fakt ist aber: Das Marktumfeld für Börsengänge ist derzeit denkbar schlecht. Dies wird auch bei den Duderstädtern eine Rolle spielen. Hinzu kommt, dass unklar ist, wer letztlich auf den IPO drängt: Ist es EQT, die ihn als präferierten Exit-Kanal ausgewählt haben? Oder die Familie Näder, die sich im Zuge eines Börsengangs von weiteren Unternehmensanteilen trennen könnte? Umstellung auf IFRS abgeschlossen So oder so: An eine erste wichtige IPO-Vorbereitung kann CFO Wahlers bereits einen Haken setzen. Im Dezember hat Ottobock die Umstellung der Bilanzierung von HGB auf IFRS abgeschlossen. „Seit Januar befinden wir uns in einer Überleitungsphase und buchen parallel nach IFRS.“ In Abstimmung mit den Eigentümern werde Ottobock „zu gegebener Zeit“ auch Abschlüsse veröffentlichen. Schulte-Noelle hatte das Projekt – damals noch als CEO und CFO in Personalunion – maßgeblich vorangetrieben. „80 Prozent des Projekts waren fertig, als ich zu Ottobock kam.“ Im nächsten Schritt will Wahlers das Management-Reporting digitalisieren. Hier sei man auf gutem Wege, es müsse lediglich „Finetuning“ vorgenommen werden, versichert er. Ein weiteres Projekt auf Wahlers‘ Agenda ist die Cashflow-Planung. „In der Theorie sind unsere Umsätze mathematisch planbar: Wir kennen unseren Marktanteil, die jährliche Anzahl an Amputationen und die Erstattungszyklen“, berichtet der CFO. Zudem haben die Duderstädter im ersten Halbjahr höhere Liquiditätsabflüsse, weil sie Komponenten für das vierte Quartal vorproduzieren. „Die Erfahrung zeigt, dass zum Jahresende die meisten Bestellungen anfallen.“ All diese Faktoren will Wahlers nutzen, um die Cashflows besser prognostizierbar zu machen. Dort sollen auch Unwägbarkeiten abgebildet werden, die bislang nicht in die Berechnungen einfließen. So braucht das Unternehmen Zusagen ausländischer Regierungen, um in den Ländern Versorgungszentren aufbauen zu dürfen. „Regierungswechsel oder politische Veränderungen können solche Zusagen verschieben – und das hat wiederum Einfluss auf unsere Cashflows“, so Wahlers. 2020 wird Wahlers alle Hände voll zu tun haben. Hektisch könnte es insbesondere dann werden, wenn Ottobock mit seinen IPO-Plänen doch schneller ernst macht als derzeit geplant. Bis es aber so weit ist, muss Wahlers all sein Augenmerk auf die langfristige Professionalisierung der Finanzabteilung von Ottobock legen. olivia.harder[at]finance-magazin.de Wahlers will die Cashflows besser prognostizierbar machen, und auch Unwägbarkeiten abbilden, die bislang nicht in die Berechnungen einfließen.

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