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Brauchen wir das Chapter-11-Verfahren in Deutschland?

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Der Werkzeugkasten für Restrukturierungsverfahren ist in Deutschland gut gefüllt. Doch brauchen wir zusätzlich das Chapter-11-Verfahren? Foto: evergreentree – stock.adobe.com
Der Werkzeugkasten für Restrukturierungsverfahren ist in Deutschland gut gefüllt. Doch brauchen wir zusätzlich das Chapter-11-Verfahren? Foto: evergreentree – stock.adobe.com

Die skandinavische Airline SAS, Mitglied von Star Alliance, hat im Juli einen Insolvenzantrag nach Chapter 11 gestellt. Einen Monat vorher beantragte der amerikanische Kosmetikhersteller Revlon Gläubigerschutz nach dem US-Verfahren. Auch in der deutschen Restrukturierungsbranche ist Chapter 11 kein unbekannter Begriff.  Doch was kann das Verfahren, und was bedeutet es für deutsche Unternehmen?

Restrukturierung: Was ist Chapter 11?

Zunächst handelt es sich bei Chapter 11 um ein US-Verfahren, das dem deutschen Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung ähnelt. „Doch anders als hierzulande können Unternehmen in den USA den Insolvenzantrag jederzeit stellen – das heißt, auch wenn keine Überschuldung vorliegt oder dem Unternehmen die Zahlungsunfähigkeit droht. Es gibt jedoch eine Ausnahme für missbräuchliche Anträge“, erklärt Annerose Tashiro, Leiterin der internationalen Restrukturierungsabteilung von Schultze & Braun. Die Unternehmen müssten also technisch nicht insolvent sein.

Während des Verfahrens kann das Unternehmen in Eigenverwaltung saniert werden – in den USA heißt das „Debtor in Possession“, kurz DIP. Zusammen mit den Gläubigern erarbeitet das Unternehmen einen Restrukturierungsplan, der vom Gericht geprüft wird. Die Aufnahme neuer Investoren oder von neuem Kapital ist erlaubt. Die neuen Gläubiger haben Vorrang vor allen anderen Kreditgebern.

Kein Insolvenzverwalter bei Chapter 11

Im deutschen Eigenverwaltungsverfahren wird dem Unternehmen ein sogenannter Sachwalter an die Seite gestellt, der im Auftrag des Gerichts darauf achtet, dass die Rechte der Gläubiger gewahrt werden. Im Chapter 11 gibt es hingegen keine dem Sachwalter ähnliche Position, die das Verfahren überwachen soll. „Jeder einzelne Schritt des Schuldnerunternehmens wird allerdings vom Gericht und dem Gläubigerausschuss genau geprüft.“ Das betreffe zum Beispiel das Beenden von Verträgen.

Die Konsequenz: „Die gesetzlichen Regelungen des Chapter 11 sind sehr umfangreich und detailliert. Dazu gibt es eine viel kleinteiligere Rechtsprechung, die zu berücksichtigen ist“, so Tashiro. Andererseits würden die Gerichte in den USA etwas mehr Ermessensspielraum als hierzulande haben. Das schuldnerische Unternehmen benötigt für die meisten Maßnahmen und Schritte, die die Insolvenzmasse betreffen, die Genehmigung des Gerichts. „Das ergibt einen unglaublichen Wust von Anträgen und Stellungnahmen. Das macht das Verfahren sehr viel aufwendiger, komplexer und auch teurer als die Eigenverwaltung.“

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Zudem hat der Gläubigerausschuss laut der Expertin „viel Macht“, weil er berechtigt ist, einen eigenen Anwalt oder Finanzberater einzustellen und sich damit zu wappnen und sich zu allen Schritten des Schuldners formell zu äußern. Die Kosten werden von der Insolvenzmasse getragen. „Auch das macht das Verfahren teuer. Denn gerade bei großen Unternehmen sind das schon ordentliche Summen“, sagt sie. Besonders sei auch, dass es mehrere Ausschüsse geben kann, neben dem „normalen“ für die ungesicherten Gläubiger sind Gläubigerausschüsse für die Bondholder oder die Equity Holder möglich. Auch andere sind je nach Konstellation denkbar. „Das ist sehr komplex und kann schnell aus dem Ruder laufen, weil jeder Ausschuss seine eigene Daseinsberechtigung unter Beweis stellen will.“

Chapter 11 versus StaRUG

Trotz der Komplexität würde das Verfahren nicht länger als das deutsche dauern, da es für wesentliche Schritte gesetzlich geregelte Fristen gibt. „Das Grundkonstrukt der Eigenverwaltung und des Chapter 11-Verfahrens – zum Beispiel, wenn es um den Insolvenzplan geht –, ist aber ziemlich ähnlich. Gerade, weil das deutsche Verfahren auch durch das ältere amerikanische inspiriert wurde“, erläutert die Juristin.

Annerose Tashiro, Leiterin der internationalen Restrukturierungsabteilung von Schultze & Braun. Foto: Schultze & Braun

Anders sieht es dagegen bei dem StaRUG-Verfahren aus. Hier sieht die Expertin weniger Parallelen: „Beim StaRUG kann man das Verfahren auf einzelne Gläubigergruppen zuschneiden. Beim Chapter 11 geht das nicht, da werden automatisch alle Gläubiger einbezogen. Ein weiterer Unterschied ist, dass beim StaRUG nicht in bestehende Verträge eingegriffen werden kann. Das Chapter 11 ist außerdem im Gegensatz zum StaRUG ein öffentliches Verfahren.“ In Summe sei das StaRUG nicht das deutsche Chapter 11, lediglich, dass auch das StaRUG vor der Insolvenz greift, sei eine Gemeinsamkeit.

Chapter 11 in Deutschland

Zwar ist das Restrukturierungsverfahren Chapter 11 nur in den USA gültig, doch auch in Deutschland ist das Verfahren nicht unbekannt. In der Vergangenheit haben bereits einige Unternehmen, die eine US-Konzernmutter und beispielsweise eine europäische Tochter haben, das Verfahren auch für die Tochter anmelden wollen. Bekannte Fälle sind zum Beispiel Steinhoff oder Almatis.

So könnte theoretisch auch Revlon mit Sitz in den USA für die deutsche Tochter mit Sitz in Hessen das Chapter 11 anmelden. Wobei zu betonen ist, dass Revlon bis jetzt für die deutsche Tochter keine Insolvenz angemeldet hat, nur für die Gesellschaften in den USA, Kanada und England.

Doch dieser Fall bleibt wohl Theorie. „Es gibt nur wenige Ausnahmen wie bei SAS, bei denen das passiert. Die Gerichte – zum Beispiel in Deutschland – erkennen wirklich sehr selten das Chapter 11 für ausländische Unternehmen an. Dann müsste für die deutsche Tochter eher eine Insolvenz nach dem Verfahren hierzulande gestellt werden“, erklärt die Restrukturierungsexpertin. Die Airline SAS hatte durch das US-Verfahren den Vorteil, dass sie einen Debt-Equity-Swap durchführen konnte, was in Schweden noch nicht möglich ist.

StaRUG-Verfahren jetzt in ganz Europa möglich

Dass es das Chapter 11 in Deutschland nicht gibt, findet Juristin Tashiro nicht schlimm. „Bis auf einen Punkt ist der Werkzeugkasten an deutschen Insolvenzverfahren genau so gut gefüllt wie in den USA.“ Mit diesem fehlenden Punkt meint sie, dass beim Chapter 11 die Einzelverfahren mehrerer insolventer Gesellschaften in einem übergeordneten Verfahren administrativ zusammengefasst werden können. „Dann gibt es ein Leit-Verfahren, einen Insolvenzplan und eine Anhörung für alle. Das geht in Deutschland leider nicht, hier muss ein Konzern für jede einzelne Gesellschaft ein eigenes Verfahren durchführen und insbesondere die Insolvenzpläne jeweils einzeln erstellen und aufeinander abstimmen.“ Auch die neueren Vorschriften in Deutschland oder der EU würden diese logistischen Herausforderungen nicht so effektiv lösen.

„Bis auf einen Punkt ist der Werkzeugkasten an deutschen Insolvenzverfahren genau so gut gefüllt wie in den USA.“

Annerose Tashiro, Leiterin der internationalen Restrukturierungsabteilung von Schultze & Braun

Gegen das Chapter-11-Verfahren in Deutschland spricht für sie auch, dass es beim StaRUG eine positive Entwicklung gibt. So wird die präventive Sanierung seit dem 17. Juli in der gesamten EU anerkannt. „Das gibt dem Ganzen einen zusätzlichen Kick“, sagt Tashiro. Die Anerkennung von Verfahren innerhalb der EU erfolgt somit automatisch. Die Anerkennung eines Chapter 11 über eine deutsche Gesellschaft scheitert fast immer an der mangelnden Zuständigkeit der US-Gerichte.

sarah.backhaus[at]finance-magazin.de

Sarah Backhaus ist Redakteurin bei FINANCE und DerTreasurer. Backhaus ist spezialisiert auf die Themen Restrukturierung, Transformation, Zahlungsverkehr und Cash Management. Sie hat Journalismus an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln studiert. Sarah Backhaus arbeitete während ihres Studiums unter anderem für Onlinemagazine von Gruner + Jahr und schrieb als freie Journalistin für die Handelszeitung, faz.net und Impulse.

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