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Was bringt die neue Insolvenzantragsregel wirklich?

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Bei vielen Unternehmen wird im Zuge der Energiekrise das Cash knapp. Eine neue Regelung soll helfen, doch Experten erheben Kritik dagegen. Foto: photoschmidt - stock.adobe.com
Bei vielen Unternehmen wird im Zuge der Energiekrise das Cash knapp. Eine neue Regelung soll helfen, doch Experten erheben Kritik dagegen. Foto: photoschmidt - stock.adobe.com

Trotz Energiekrise ist die große Insolvenzwelle bisher nicht angerollt, aber viele Restrukturierer rechnen künftig mit mehr Fällen. Den Anfang machten Hakle, Görtz und Dr. Schneider. Deshalb will der Bund den Unternehmen zur Seite springen und lockert das Insolvenzrecht mit Blick auf eine drohende Überschuldung.

Konkret betrifft die neue Regelung Insolvenzanträge, die wegen Überschuldung gestellt werden. Der Prognosezeitraum der sogenannten Überschuldungsprüfung soll von zwölf auf vier Monate verkürzt werden. Unternehmen sollen in dem Fall von der Antragspflicht ausgenommen werden, wenn ihr Fortbestand über den Zeitraum von vier Monaten hinreichend wahrscheinlich ist. Die neue Regel soll bis Ende 2023 gelten.

Überschuldung ist nicht Hauptinsolvenzgrund

Doch die angepriesene Hilfe ist in der Praxis gar nicht so wertvoll, wie Alfons-Maria Gracher, Gründer des Kautionsmaklers Gracher, findet. Er kritisiert die neue Regelung mit Blick auf die tatsächliche Insolvenzerleichterung. „Ich bezweifle, dass die neue Regel so ein großer Wurf ist. Die meisten Unternehmen gehen wegen mangelnder Liquidität insolvent und nicht aufgrund einer Überschuldung.“ Er behauptet, in seiner über 20-jährigen Karriere noch keinen Fall gesehen zu haben, bei dem ein Unternehmen ausschließlich wegen Überschuldung pleiteging.

Die Zahlen bestätigen das. Laut Daten des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg haben von 1.800 deutschen Unternehmen 97 Prozent Insolvenz wegen Zahlungsunfähigkeit angemeldet.

Was sagen andere Experten dazu? Guido Vos, Risikodirektor bei dem Kreditversicherer Allianz Trade (vorher Euler Hermes) in der DACH-Region, meint: „Die Gründe für Insolvenzen sind seit jeher vielfältig. Aktuelle Statistiken deuten darauf hin, dass derzeit tatsächlich die Mehrzahl der Insolvenzen auf Zahlungsunfähigkeit und nicht auf eine Überschuldung zurückgeht.“

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Florian Harig, Partner bei der auf Restrukturierung spezialisierten Kanzlei Anchor, sieht das ähnlich. „Bei einer Antragstellung wegen drohender Zahlungsunfähigkeit kann zwar auch bereits eine Überschuldung eingetreten sein. Die Abgrenzung war bis zum Jahr 2021 noch unscharf, da die Prognosezeiträume sich überschnitten. Aber: Insolvenzanträge, die nur wegen Überschuldung gestellt werden, sind tatsächlich die Ausnahme.“

Insolvenzerleichterung soll trotzdem helfen

Was bringt die Insolvenzregelung des Bundes daher überhaupt? „Ob Maßnahmen wie der verkürzte Prognosezeitraum für Insolvenzen wegen Überschuldung den Unternehmen helfen wird, ist schwer abzuschätzen. Ein kürzerer Zeitraum kann auf alle Fälle besser prognostiziert werden als ein längerer“, so Risikochef Vos. Ob die neue Regel aber wirklich Insolvenzen vermeiden wird, hängt für ihn sehr von den mittelfristigen Aussichten ab: Wenn sich die hohen Kosten für die Unternehmen in den nächsten drei bis sechs Monaten normalisieren, könnte es helfen, glaubt Vos.

Harig von Anchor sieht vor allem Chancen bei der Haftungsreduzierung. „Die Verkürzung des Prognosezeitraums wird nicht dazu führen, dass signifikant weniger Insolvenzanträge gestellt werden. Dafür ist die Anzahl der wegen Überschuldung gestellten Anträge zu gering.“ Die geplante Gesetzesänderung entlaste jedoch die Geschäftsführung, die in einigen Branchen aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklungen bei Energie und Lieferketten kaum noch belastbar für zwölf Monate planen könne.

„Die Verkürzung des Prognosezeitraums wird nicht dazu führen, dass signifikant weniger Insolvenzanträge gestellt werden.”

Florian Harig. Anchor

Denn Geschäftsleiter müssten für den jeweils gültigen Prognosezeitraum die überwiegende Wahrscheinlichkeit der Durchfinanzierung prognostizieren und sollten dies auch dokumentieren. Andernfalls könnte ihnen eine Insolvenzverschleppung vorgeworfen werden. „Insoweit führt eine Verkürzung zu einer Reduzierung des Haftungsrisikos“, so Harig.

Ist eine Aussetzung der Insolvenzantragspflicht besser?

Neben der Insolvenzantragserleichterung bei Überschuldung wird auch darüber diskutiert, die Insolvenzantragspflicht wie während der Corona-Pandemie ganz auszusetzen. Das hätte den Vorteil, dass sowohl Unternehmen mit einem Überschuldungsproblem als auch einer Zahlungsunfähigkeit geholfen wäre. Der Nachteil ist, dass Zombie-Unternehmen so immer weiter am Markt überleben könnten.

Gracher befürwortet eine Aussetzung der Antragspflicht. Gemäß der aktuellen Gesetzeslage ist ein Unternehmen zahlungsunfähig, wenn es in einem Zeitraum von drei Wochen feststellt, dass es nicht mindestens 90 Prozent seiner Verbindlichkeiten bedienen kann. „Diese drei Wochen sind aktuell viel zu kurz“, findet Gracher.

Denn: „Unternehmen sind mehreren Problemen ausgesetzt: Zum einen werden sie beim Working Capital in die Zange genommen und müssen ihr Lager aufbauen. Das bedeutet viel Vorfinanzierung. Zum anderen bricht bei vielen Unternehmen der Umsatz weg, zum Beispiel im Retail-Sektor“, so der Kautionsmakler weiter.

Das sind Hürden, die aus Grachers Sicht für einige Unternehmen zu meistern wären, aber länger als drei Wochen dauern können. Ein Factoring-Programm würde in Krisenzeiten beispielsweise rund drei Monate dauern. „Mit einer Aussetzung wird den Unternehmen viel Druck weggenommen“, schätzt Gracher. Dabei müsste man abwägen, was schlimmer ist – viele Insolvenzen oder Zombies, „die ohnehin irgendwann fallen werden“.

Harig: „Aussetzung der Insolvenzantragspflicht nicht sinnvoll“

Anchor-Partner Harig hält eine Aussetzung der Insolvenzantragspflicht für nicht sinnvoll: „Die vollständige Aussetzung der Insolvenzantragspflicht  wegen Zahlungsunfähigkeit führt in der aktuellen Situation zu weit.“ Hierdurch würden notwendige Marktbereinigungen verschoben, was auch mit Blick auf den Fachkräftemangel gesamtwirtschaftlich nicht sinnvoll sei. Wenn nicht mehr überlebensfähige Unternehmen künstlich am Markt gehalten werden, orientieren sich deren Mitarbeiter nicht zu zukunftsfähigen Unternehmen. Dort fehlen dann qualifizierte Kräfte. „Zudem nimmt eine Aussetzung der Antragspflichten – ebenso wie immer neue Hilfskredite – den Unternehmen den notwendigen Innovationsdruck“, argumentiert er. 

Sarah Backhaus ist Redakteurin bei FINANCE und DerTreasurer. Backhaus ist spezialisiert auf die Themen Restrukturierung, Transformation, Zahlungsverkehr und Cash Management. Sie hat Journalismus an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln studiert. Sarah Backhaus arbeitete während ihres Studiums unter anderem für Onlinemagazine von Gruner + Jahr und schrieb als freie Journalistin für die Handelszeitung, faz.net und Impulse.